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Aufnahme aus dem Stroop-Bericht. Das Foto trägt die Bildunterschrift "Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt". Bildnachweis: National Archives, College Park, MD, USA
Freitag, 27. April 2018, 17 Uhr

Schaustück des Monats April 2018
Mehr als Worte.
Fotos als Beweismittel im Nürnberger Prozess

Aufnahme aus dem Stroop-Bericht. Das Foto trägt die Bildunterschrift "Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt".

Objekt: Auf Karton geklebte S/W Fotografie, Fotograf unbekannt
Eigentümer: National Archives, College Park, MD, USA

Der Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die "Hauptkriegsverbrecher" beruhte auf Beweisen. Als Beweismittel galten Dokumente und Zeugenaussagen, aber auch Filme und Fotografien. Für die Anklage waren Dokumente wie Gesetze, Erlasse, Reden oder Tagebücher besonders bedeutsam, belegten sie doch eindrucksvoll dem Gericht und der Weltöffentlichkeit die Verantwortung der Angeklagten für die ihnen angelasteten Verbrechen. Filmaufnahmen und Fotografien waren dagegen für die Beweisführung von untergeordneter Bedeutung. Auf die Prozessbeteiligten und -beobachter machten sie hingegen einen großen Eindruck.

"Auf den Photographien habe ich ihn wieder erkannt". François Boix und die Mauthausenfotos

Bei den Fotos, die dem Gericht als Beweismittel von der Anklage vorgelegt wurden, handelte es sich um Einzelaufnahmen, Serien und ganze Alben. Nur selten war dabei bekannt, wann die Aufnahmen genau entstanden sind, wer sie gemacht hatte, welche Personen auf ihnen abgebildet sind und wie sie überliefert wurden. Eine Ausnahme bildeten die Fotos, zu denen die Anklage François Boix befragte. Der 1920 in Barcelona geborene Boix kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner. Nach dem Sieg des Generals Franco floh er 1939 nach Frankreich, wo er sich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer anschloss. Nach seiner Verhaftung wurde er 1941 als "Rotspanier" in das Konzentrationslager Mauthausen deportiert. Für die SS musste der Fotograf in der erkennungsdienstlichen Abteilung des Lagers arbeiten. Dabei konnte er zahlreiche Negative und Abzüge sicherstellen, die das Geschehen in Mauthausen dokumentierten. Die französische Anklage am Internationalen Militärgerichtshof rief Boix am 28. Januar 1946 als Zeuge auf. Dem Gericht schilderte er anhand der Fotos, wie Häftlinge und sowjetische Kriegsgefangene im Lager misshandelt und ermordet wurden. Auf mehreren Aufnahmen identifizierte Boix zwei der Angeklagten, die das Lager Mauthausen besucht hatten: Ernst Kaltenbrunner, vormals Chef des Reichssicherheitshauptamtes, und Albert Speer, den ehemaligen Rüstungsminister.

Der Blick der Täter. Das Album von Jürgen Stroop

Die Fotos hatte die Lager-SS angefertigt, um ihre Arbeit zu dokumentieren. Mit seinen Aussagen zu den abgebildeten Situationen, Personen und Fotografen erschloss Boix die Aufnahmen für das Gericht aus einer anderen Perspektive. Ein vergleichbares Korrektiv zum Blick der Täter fehlte bei dem Album von Jürgen Stroop, das von der amerikanischen Anklage vorgelegt wurde. Unter dem Titel "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!" dokumentiert der in Leder gebundene Bericht die Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstands im Frühjahr 1943, bei der die von Stroop kommandierten SS- und Polizeiverbände mehr als 60 000 Juden ermordeten oder in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppten. Der damalige SS- und Polizeiführer hatte den Bericht in mehrfacher Ausfertigung für seine Vorgesetzten erstellt. Als Beweismittel lagen dem Gericht der Entwurf und die für Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, angefertigte Ausgabe vor. Der dem Bericht angefügte Bildteil besteht aus 52 Aufnahmen im Kleinbildformat mit handschriftlichen Bildunterschriften. Der Entwurf enthält 16 weitere Aufnahmen. Die Fotos zeigen Stroop, seinen Stab und die eingesetzten Verbände, das Zusammentreiben von Juden zur Deportation und die systematische Zerstörung des Ghettos. Auf zwei Fotos sind auch ermordete Juden zu sehen. Eine Reihe von Aufnahmen lassen sich als Tatortfotos dem Genre der Polizeifotografie zuordnen. Sie zeigen als "Bunker" bezeichnete notdürftige Verstecke von Juden.

Der amerikanische Hilfsankläger William F. Walsh projizierte am 14. Dezember 1945 sechs Fotos aus dem Stroop-Bericht auf die Leinwand im Gerichtssaal. Mit einer Ausnahme waren auf den Auf-nahmen jedoch nicht die zur Deportation getriebenen Juden oder Leichen zu sehen, sondern die Zerstörung des Ghettos und die Täter. Für Walsh und den amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson, der den Stroop-Bericht bereits in seiner Eröffnungsrede als herausragendes Beweis-dokument für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden angeführt hatte, dienten die Fotos bloß zur Illustration der im Dokument beschriebenen Vorgänge. Weitere Erläuterungen zu den Aufnahmen – beispielsweise durch Zeugen – unterblieben. Stroop befand sich seit Kriegsende zwar in amerikanischer Haft, aber die vom Angeklagten Kaltenbrunner beantragte Vorladung als Zeuge lehnte das Gericht ab. Sein Bericht fand jedoch Eingang in die Urteilsbegründung zu den Anklagepunkten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: "Der planmäßige und systematische Charakter der Judenverfolgungen wird am besten durch den Original-Bericht des SS-Brigade-Generals Stroop gekennzeichnet."

"Ikonen der Vernichtung". Der Umgang mit den Fotos nach den Nürnberger Prozessen

Der Stroop-Bericht war Beweismittel in weiteren Ermittlungs- und Strafverfahren gegen NS-Täter. Die amerikanische Anklage im Nürnberger Nachfolgeprozess gegen führende Mitarbeiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts nutzte das Dokument ebenso wie das Bezirksgericht Warschau 1951 im Verfahren gegen Jürgen Stroop und einem Mitangeklagten aus seinem Stab. Bereits drei Jahre zuvor war das Album von den US-Behörden an Polen übergeben und dort veröffentlicht worden. In der Bundesrepublik wurde das Dokument vollständig erst zwölf Jahre später publiziert. Die Fotos aus dem Bericht fanden seit den 1950-er Jahren Verwendung in zahlreichen Büchern, Ausstellungen und Filmen über die Verfolgung der europäischen Juden. Einzelne Aufnahmen wie die des kleinen Jungen mit den angstvoll erhobenen Händen sind zu regelrechten "Ikonen der Vernichtung" (Cornelia Brink) geworden und prägen maßgeblich den Bildhaushalt des Holocausts. Dabei wurde dieses Foto wie alle anderen, die Opfer in bedrückenden Nahaufnahmen darstellen, im Nürnberger "Hauptkriegsverbrecherprozess" nicht im Gerichtssaal gezeigt. Für die Ankläger sollten die Fotos bloß die Aussage der Schriftdokumente beglaubigen. Für die konkreten Umstände, unter denen die Aufnahmen entstanden waren, interessierte sich das Gericht nicht. Dieser nachlässige quellenkritische Umgang änderte sich erst in späteren Ermittlungs- und Strafverfahren. Sowohl bundesdeutsche Staatsanwaltschaften als auch das mit der Aufklärung von NS-Verbrechen betraute Ministerium für Staatssicherheit der DDR konnten zahlreiche der abgebildeten Personen – Opfer und Täter – auf den Bildern identifizieren und durch Zeugenaussagen den Entstehungszusammenhang erhellen. Wer die Fotos aufgenommen hat, ist jedoch bis heute nicht gesichert.

Kosten
Eintritt frei