Rarität aus Seide
Wie eine Stoffkarte britischen Soldaten zur Flucht aus Nazi-Deutschland verhalf

Weil sich die Fluchtkarte aus Seide auf die Größe eines Herrentaschentuchs falten ließ, fiel sie nicht auf und ließ sich leicht verstecken. Foto: Daniela Harbeck-Barthel
Die eine Seite der Fluchtkarte ("No. 7329A, 9.C.(a)") zeigt im Zentrum Frankreich mit rot markierten Grenzen zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet. Rot schraffiert sind die Uferanlagen zum Ärmelkanal und zum Atlantik. (DZ-K M 11)Die zweite Seite der Fluchtkarte ("No. 7330, 9.U") sollte flüchtenden britischen Soldaten innerhalb Deutschlands und in die Nachbarländer den Weg weisen. Bevorzugte Ziele waren Schweden und die Schweiz. (DZ-K M 11)Jens Heinrich, Praktikant im Dokumentationszentrum, zeigt Thimo Kanold, der ein Freiwilliges Soziales Jahr im Museum absolviert, die seltene britische Fluchtkarte aus Seide aus dem Zweiten Weltkrieg. Foto: Daniela Harbeck-BarthelJunge Deutsche wurden mit Spielen, Lektüre, Filmen und Musik auf den Krieg gegen England eingeschworen. Das zeigen zahlreiche Neuzugänge des Jahres 2022 in der Spielesammlung und der NS-Bibliothek des Dokumentationszentrums.Schon während des Ersten Weltkriegs wurde diese Stoffkarte vom "Deutsch-Französischen Kriegsschauplatz" herausgegeben. Sie diente der Zurschaustellung des deutschen Vormarschs, umrahmt von den Farben der Reichsflagge und von Eichenlaub. (Bildnachweis: www.kpemig.de)Auch Großbritannien gab während des Ersten Weltkriegs eine Propaganda-Stoffkarte heraus. Sie zeigt Frauen aus den Landesteilen des Vereinigten Königreichs, die wehmütig-ermunternd dem Soldaten zuwinken, der in Nordfrankreich in den Krieg zieht. (Bildnachweis: www.dominicwinter.co.uk)Im Spielbrett von Monopoly konnte nicht nur die Seidenkarte unter einer Beschichtung versteckt werden. In den Spielgeld-Scheinen wurden Geld und Briefe in die Kriegsgefangenenlager geschmuggelt. (Bildnachweis: https://seesichtmagazin.ch/aktuelles/wir-bleiben-zuhause; Philip E. Orbanes)Von der Historikerin Helen Fry stammt die jüngste historische Untersuchung zum MI 9. Das Buchcover zeigt einen aus dem berüchtigten Lager Schloss Colditz flüchtenden britischen Soldaten, dem eine Fluchtkarte den Weg weist. (Bildnachweis: Yale University Press)2016 berichtete BBC News über dieses Kleid, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus überflüssig gewordenen Stoffkarten gefertigt worden war. Die verwendeten Silk Maps zeigen allerdings den asiatischen Kriegsschauplatz. (Bildnachweis: BBC news, 13.06.2016)
Objekt:

doppelseitig bedruckte, gelb umrandete Flucht- und Ausweichkarte aus Seide "A.D.I. (Maps) Air Ministry"

Produzent:

Großbritannien, War Office, Air Ministry. Entwicklung: MI 9

Ort:

London

Material:

bedruckte Seide

Maße:

38 x 47 cm

Datierung:

o. A. (um 1942)

Sammlungsnummer:

DZ-K MA 11

Dass der britische Geheimdienst bei der Neuordnung der Kartensammlung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände eine Rolle spielen würde, war eine Überraschung für das Inventarisierungsteam. In diesem Sammlungsbereich werden vorwiegend Karten und Pläne zum Reichsparteitagsgelände, Schulatlanten und Werbemittel der "Stadt der Reichsparteitage" aufbewahrt, aber eben auch einige Luftschutzpläne, Kriegs- und Militärkarten aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Letztere wurden dem Museum häufig zusammen mit Fotos, Uniformen und Feldpostbriefen als Teil von Soldatenkonvoluten übergeben.

 

Quadratisch, praktisch, gut! – Fluchtkarte aus Seide

Welchem Soldaten die wohl außergewöhnlichste militärisch konnotierte Karte in Museumsbesitz einst gehörte, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Die bloße Produktgeschichte erlaubt allerdings bereits einen spannenden Einblick in die spezifische Beschaffenheit und Bedeutung von britischen Fluchtkarten des Zweiten Weltkriegs.

Schon dass sie nicht aus Papier besteht, sondern aus Seide, ist ungewöhnlich. Wenn man nicht genau hinschaut, würde man das nur 38 x 47 cm kleine, beiderseits mit einem hellgeben Farbrahmen umrandete Stück Stoff, das in gefaltetem Zustand nicht größer als ein Herren-Taschentuch ist, zunächst der Objektgruppe Textilien zuordnen. Schon der zweite Blick offenbart dann aber die klassischen Markierungen einer Straßen- und Verkehrskarte mit Bahnlinien, den verschiedenen Straßentypen bis hin zu den "Reichsautobahnen", den großen Flüssen und Kanälen sowie den internationalen Grenzen. Im Gegensatz zur englischsprachigen Legende sind die Orts- und Gewässernamen bis auf einige Ausnahmen (z.B. Vienna für Wien) in der jeweiligen Landessprache abgedruckt, wohl um den englischsprachigen Besitzern die Orientierung an der Beschilderung vor Ort zu ermöglichen.

Seite "No. 7329A, 9.C.(a)" zeigt im Hochformat eine Straßenkarte von Frankreich, das seit 1940 von Deutschland teilweise besetzt war. Grün eingezeichnet sind die Landesgrenzen von Belgien im Norden, über die Schweiz – dem neben Schweden bevorzugten Fluchtziel britischer Soldaten – bis zu Spanien im Süden. Rot markiert sind die Grenzen zwischen besetzten und unbesetzten Gebieten in Frankreich und rot schraffiert die breite Verteidigungszone an der Küste zum Ärmelkanal und zum Atlantik – beides besonders gefährliche Bereiche für Flüchtende.

Auf der Seite "No. 7330, 9.U" ist im Querformat eine Straßenkarte Deutschlands aufgedruckt mit den angrenzenden Gebieten Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark, Österreich, Teilen der Schweiz, dem besetzten Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Die Legende differenziert zwischen den Markierungen der internationalen Grenzen für die Jahre 1939 und 1941 und ermöglicht damit die Datierung der Karte auf das Jahr 1942. Stoff und Druckbild des Exemplars im Dokumentationszentrum sind unbeschädigt, es wirkt völlig unbenutzt.

Krieg aus der Luft – und in Liedgut und Spiel

Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, bei dem die deutsche Luftwaffe bereits eine wichtige Rolle spielte, hatte Großbritannien gemeinsam mit Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Am 14. Mai 1940 war Rotterdam das Ziel deutscher Luftangriffe und nach den erfolgreichen "Blitzkriegen" gegen Polen, Norwegen, die Niederlande, Belgien und Frankreich hatte Hitler das Ziel ausgegeben, mit Kampfbombern auch den Widerstand Großbritanniens zu brechen.

Nach Luftangriffen vor allem auf die Flughäfen im Süden Englands befahl Hitler am 5. September 1940 Tag- und Nachtangriffe gegen die großen Städte zu fliegen. Bis zum Mai 1941 war London beinahe täglich Ziel von deutschen Bomben, denen häufig Zivilisten zum Opfer fielen.

Die umfangreiche propagandistische Werbung in Nazi-Deutschland für dieses Vorhaben hat sich auch in einigen Spielen und Partituren für Film- und Marschmusik in der Sammlung des Dokumentationszentrums niedergeschlagen.

Mit dem Start des Westfeldzugs begann die Royal Air Force bereits Mitte Mai 1940 ihrerseits erste Luftangriffe gegen das westliche Deutschland, die ab dem Sommer 1942 zusammen mit amerikanischen Verbänden zu beständigen Angriffen gegen deutsche Städte und Industrieanlagen, darunter auch die fränkischen Industriestädte Nürnberg und Schweinfurt, gesteigert wurden. Ab Sommer 1943 folgten Flächenbombardements und die Zerstörung von Hamburg, Dresden, Würzburg und Nürnberg. Die britische Royal Air Force und die United States Army Air Force hatten bei ihren Einsätzen während des Zweiten Weltkriegs jeweils rund 80.000 Todesopfer zu beklagen. Piloten und Besatzungsmitglieder alliierter Kampfflugzeuge, die den Abschuss überlebt hatten, versuchten sich nach Hause durchzuschlagen oder mussten den Weg in die deutsche Kriegsgefangenschaft antreten.

James Bond und "Q" lassen grüßen – Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft

Gelang einem Prisoner of War die Flucht, war das nicht nur gut für die Moral der eigenen Truppe, sondern Rückkehrer konnten oft auch wertvolle Informationen zur gegnerischen Kriegsmaschinerie liefern. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, als eine Gefangennahme in Großbritannien noch als Schande betrachtet worden war, wurden jetzt britische Flieger proaktiv auf eine mögliche Flucht eingeschworen. Die Erfindung von versteckten Fluchthilfen sowie die Ausarbeitung und Schulung von Fluchtstrategien wurde zur Aufgabe des erst 1939 gegründeten britischen Militärgeheimdienst-Departments MI 9. Dessen Chef Brigadier Norman Crockatt wurde dabei maßgeblich unterstützt von seinem technischen Offizier Clayton Hutten (1893–1965), der jeden James Bond-Fan an dessen genialen Erfinder-Sidekick "Q" erinnern dürfte.

Hutten entwickelte mit seinem Team unter anderem das Escape- and Evasion-Mapping-Programm mit Flucht- und Ausweichrouten, die den Soldaten die Heimkehr aus feindlichem Gebiet ermöglichen sollten. Deshalb mussten diese Karten strapazierfähiger sein als Exemplare aus dem billigerem, aber feuchtigkeitsanfälligerem Papier, sich möglichst geräuschlos falten lassen und bei Gefahr unauffällig und schnell wie ein Schnupftuch in der Hosen- oder Uniformtasche versteckt werden können.

Für Teile der Besatzungen der Royal Air Force, für Agenten und Spezialkräfte, die mit Fallschirmen hinter den feindlichen Linien landeten, wurden Fluchtkarten aus Seide direkt in die Uniform eingenäht, manchmal auch in Stiften oder Rasierern versteckt. Für Soldaten, die ohne diese Unterstützung gefangen genommen oder denen die Karten-Taschentücher nach der Festnahme abgenommen worden waren, mussten die Fluchthilfen in die Lager eingeschmuggelt werden.

 

 

Das Fluchtprogramm des MI 9 umfasste neben Karten auch Kompasse, Magnete und Feilen, die in Hohlräumen von Körperpflegesets, Uniformen oder Knöpfen versteckt wurden. Dank der Hersteller von Spielen wie Monopoly, von Kricketschlägern oder Schallplatten konnten die Fluchthilfen unter speziellen Laminierungen, zwischen den Monopoly-Geldscheinen oder in Geheimfächern der Verpackungen verborgen werden.

Im Gegensatz zu den aus rassistischen Gründen unmenschlich behandelten sowjetischen PoWs, unter anderem auch im Nürnberger Kriegsgefangenenlager Langwasser auf dem Reichsparteitagsgelände, wurden internierte britische Soldaten nach der Genfer Konvention behandelt. Sie durften Pakete vom Roten Kreuz erhalten und mit ihren Familien korrespondieren, was den Schmuggel von Gegenständen und codierten Nachrichten über Fluchtpläne oder Spionageinformationen aus Nazi-Deutschland erleichterte.
Lager Langwasser

Erfolgreich bis heute – Fluchtkarten als Bettbezug und Vintage-Kleid im Online-Shop

Bis zur Befreiung der PoW-Camps bei Kriegsende war es fast 36.000 Briten gelungen, nach Hause durchzukommen. Dass dabei die 243 Einzelkarten mit Straßen- und Grenzverläufen, Fluchtrouten und Hafenanlagen auf Seide, Kunstseide und Viskose, von denen das britische Kriegsministerium etwa 1.750.000 Exemplare fabrikmäßig hatte herstellen lassen, wertvolle Dienste leisteten, hat die Kartenforscherin im britischen Verteidigungsministerium Barbara A. Bond herausgefunden.

Wie stolz man im Vereinigten Königreich den Mythos der erfolgreichen Fluchtgeschichten aus deutschen Lagern wie Schloss Colditz bei Leipzig oder dem Stalag Luft III bei Sagan (heute polnisch: Zagan) kultiviert, zeigen nicht zuletzt zahlreiche Bücher. Dramatische Titel wie "Escape or Die. True stories of heroic escape in the Second World War" (Brickhill, 2003) oder "Airmen’s incredible Escapes. Accounts of Survival in the Second World War" (Evans, 2020) wenden sich offensichtlich an eine breitere Leserschaft als nur die Historiker*innen-Zunft.

Als Spaß-Geschenk für Fans historischer Karten und Militaria dürften Kissen und Bettwäsche im Fluchtkarten-Design gedacht sein, die bei Online-Shops bestellt werden können. Andere Hersteller bieten Escape-Map-Optik auf Abendkleidern und Hoodies als exklusives Fashion Statement mit Nachhaltigkeits-Touch zu stattlichen Preisen an.

Einen realen geschichtlichen Hintergrund hatte dagegen ein Kleid, über dessen Verkauf BBC News 2016 berichtete: Es war in der an Rohstoffen knappen Nachkriegszeit aus den nun überflüssig gewordenen Silk Maps des MI 9 gefertigt worden. Dieses "map dress" ist heute genauso eine historische Quelle, wie die in Deutschland nach dem Krieg aus Hakenkreuz-Fahnen, abgelegten Uniformen und dicken Wehrmachtsdecken selbstgenähte Kleidung.

Zum Weiterschauen:

Drei Fragen an... (.mp4-Datei 183 MB)
Geografie-Student Jens Heinrich, der im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände seine studienbegleitenden Praktika absolviert, gewährt unserem Mitarbeiter Thimo Kanold, der ein Freiwilliges Soziales Jahr im Museum absolviert, Einblicke in seine Arbeit in der Kartensammlung und zeigt ihm die seltene britische Fluchtkarte aus Seide aus dem Zweiten Weltkrieg.


Zum Weiterlesen, Weiterforschen:

Bond, Barbara A.: Escape and evasion maps of World War II, British Library Board, 2014
(10/ 2022; Lizenz: CC-BY)

Helen Fry: Mi9. A History of the Secret Service for Escape and Evasion in World War Two, Yale University Press 2020

Jürgen Ruby (Hg.): Privilegierte Lager? Westalliierte Flieger in deutscher Kriegsgefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges. Begleitpublikation zur Sonderausstellung vom 12.07.2013 bis 28.09.2014 im Militärhistorischem Museum der Bundeswehr, Berlin 2014

Hannah Steinkopf-Frank: The Chic Garments Made From WWII Escape Maps
(17.12.2020)


Reihe "Ans Licht geholt – aus der Sammlung des Dokumentationszentrums"

Text und Recherche: Daniela Harbeck-Barthel; mit Beiträgen von Jens Heinrich
20.11.2022
Textlizenz: CC BY SA 4.0
© Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände

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Dank an Dr. Matthias Gebauer, Lehrstuhl für Sozial- und Bevölkerungsgeographie der Universität Bayreuth.