Bis heute prägen die Bilder der Inszenierungen zu den Reichsparteitagen die Wahrnehmung des Reichsparteitagsgeländes. Die teils unvollendeten Großbauten stehen im Zentrum des Interesses. Dagegen sind Bauten und Strukturen, die etwas über die Geschichte des Areals im Zweiten Weltkrieg erzählen, beinahe komplett verschwunden. Letzter architektonischer Zeuge ist der heute teils überwucherte und abgesperrte Bahnhof Märzfeld: Er erinnert uns daran, dass das ehemalige Reichsparteitagsgelände auch ein Tatort nationalsozialistischer Verbrechen und Gewalt, ein Ort individuellen Leidens war. Neben seiner Bedeutung als zentraler Bahnhof für den An- und Abtransport von zigtausenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitenden sind es vor allem die Deportationen von über 2000 Jüdinnen und Juden aus Franken in Vernichtungslager und Ghettos im Osten, die den Bahnhof Märzfeld gerade in diesen Tagen zu einem wichtigen Erinnerungsort machen. Denn vor achtzig Jahren, am 29. November 1941, war er für 1008 Jüdinnen und Juden aus Franken die letzte Station vor ihrer Deportation in das Lager auf dem Gut Jungfernhof bei Riga (Lettland).
Sammellager Langwasser und die erste Deportation
Am 27. November 1941 werden erstmals Jüdinnen und Juden aus Bamberg, Bayreuth, Coburg, Erlangen, Forchheim, Fürth, Nürnberg und Würzburg von Gestapobeamten und mit Hilfe der Kriminalpolizei in ein Sammellager auf dem Reichsparteitagsgelände gebracht. Die Betroffenen hatten erst wenige Tage zuvor durch umfangreiche Merkblätter von ihrer "Evakuierung", wie die Verschleppung der Menschen in der akribisch geregelten Organisationsanweisung der Gestapo Nürnberg-Fürth genannt wird, erfahren.
Die erzwungene Abreise erfolgt vor den Augen der lokalen Bevölkerung. Adolf Stein aus Nürnberg berichtet über die Abholung seiner Tochter:
"In der Nähe von unserem Hause wohnten noch mehr Juden und als der Polizeiwagen gegen vier Uhr vorfuhr, war er schon voll von diesen Menschen. Begleitet war dieser Wagen von einer schaulustigen und johlenden Menge, die sich das schmachvolle Schauspiel dieser unglücklichen Menschen nicht entgehen ließ"
Staatsarchiv Nürnberg Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth II 3070
Angst, Schikanen, Misshandlungen und Raub prägen die Tage im Sammellager Nürnberg-Langwasser. Das Gepäck wird durchsucht, die Menschen müssen sich einer demütigenden Leibesvisitation unterziehen, ihre Ausbürgerung unterschreiben und ihr gesamtes verbliebenes Vermögen abtreten sowie die Kosten für ihre Deportation selbst bezahlen.
Die Gestapo Nürnberg-Fürth lässt von all diesen Vorgängen Foto- und Filmaufnahmen anfertigen. Der nicht erhaltene Film wird nach der zweiten Deportation vom März 1942 in das Ghetto Izbica zur Unterhaltung der Beteiligten auf einem "Kameradschaftsabend" im Lager gezeigt. Die Aussage der Überlebenden Rosa Hausmann vor dem Nürnberger Landgericht 1949 wirft ein Schlaglicht auf das Leiden der Menschen im Sammellager:
"Im Lager Langwasser waren wir am Boden gelegen ohne etwas darunter. Mir sind bei der Durchsuchung Lebensmittel weggenommen worden, ich glaube Seife und eine Wurst. Wir mussten wohl 100 RM bezahlen, das übrige ist mir in der Wohnung weggenommen worden. … Dr. Richard Kohn ist misshandelt worden, das habe ich gesehen auf dem Weg später. Wir mußten zum Filmen vorbeimarschieren, Kohn soll, glaube ich, die Hand vorgehalten haben und dann gab es den Zusammenstoß."
Staatsarchiv Nürnberg, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth II 3070
Übergang in die Welt der Lager und des Terrors
Am 29. November 1941 mussten die Jüdinnen und Juden auf der Bahnanlage beim Bahnhof Märzfeld antreten. Damit beginnt endgültig der Übergang in die Welt der nationalsozialistischen Ghettos und Lager, deren Terror und Vernichtungsgewalt. Auf der dreitägigen Fahrt nach Riga haben die Insassen kaum zu essen und in der Regel kein Wasser. Nach ihrer Ankunft werden die Deportierten in ein von der SS kurzfristig eingerichtetes Lager auf dem Gut Jungfernhof gebracht. Ab Dezember 1941 halten sich dort mehrere tausend Jüdinnen und Juden aus Deutschland unter menschenverachtenden Bedingungen auf. Viele sterben an Hunger, Erfrierungen oder durch die Gewalt der bewachenden SS. Im März 1942 beginnen im nahegelegenen Wald bei Biķernieki systematische Erschießungen von 1840 Menschen des Lagers Riga-Jungfernhof. Wer nicht den gezielten Erschießungen zum Opfer fällt, wird zur Zwangsarbeit für seine Peiniger eingesetzt. Nur 52 der mit dem Transport am 29. November 1941 aus Nürnberg deportierten Jüdinnen und Juden aus Franken überleben den Holocaust.
Was Bleibt?
Heute erinnert in Nürnberg kaum etwas an die gewaltvolle Geschichte der Deportationen. Die Orte des Leidens wie das Sammellager sind durch die zwischenzeitliche Überbauung verschwunden. Dort befindet sich der Stadtteil Langwasser. Für Angehörige aber ist dieser Ort ebenso wie der ehemalige Bahnhof Märzfeld von großer Bedeutung. Dort gedenken sie Ihrer Familienmitglieder. Leider sind Erinnerungszeichen bisher rar und fehlen insbesondere dort, wo viele Menschen starben oder in den Tod gingen.
Ein Blogbeitrag des Stadtarchivs Nürnberg zum 80. Jahrestag der Deportation
Das Beispiel der Familie Stern
Eine Slideshow des Stadtarchivs Nürnberg nennt die Namen der 499 ermordeten jüdischen Nürnbergerinnen und Nürnberger
Die Nürnberger Opfer der Deportation am 29.11.1941 nach Riga-Jungfernhof
Weiterführende Literatur
Angrick, Andrej/Klein, Peter: Die "Endlösung" in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944, Darmstadt 2006.
Hübschmann, Ekkehard: Die Deportation von Juden aus Franken nach Riga, in: Frankenland. Zeitschrift für fränkische Landeskunde und Kulturpflege 56 (2004) 5, S. 344–369.
Schmidt Alexander: Sammellager Langwasser. Die Deportation der fränkischen Juden und Jüdinnen vom Bahnhof Märzfeld, in: Das Reichsparteitagsgelände im Krieg. Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Massenmord, Petersberg 2021.