Schaustück des Monats November 2018:
Korruption im Gerichtssaal?
Die Richtergruppe aus der Nürnberger Ratsstube
Spezialführungen mit Benno Baumbauer, M.A., wissenschaftlicher Volontär an den Kunstsammlungen
Künstler: Schnitzer aus dem Umkreis Hans Leinbergers (zugeschrieben)
Datierung: um 1516–18 (?)
Eigentümer: Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Inv.-Nr. Pl 0011. Der Engel Dauerleihgabe des Germanischen Nationalmuseums, Inv.-Nr. Pl.O. 562
Gegenstand der Verhandlung: eine Gruppe von vier Holzskulpturen der Renaissancezeit, die Kunstexperten bis heute vor Rätsel stellt. Als Hauptfigur thront der Richter auf einem grotesken Fabeltier, das meist als Greif gedeutet wird. Zu seinen Seiten die beiden Kontrahenten des Rechtsstreits: Der reiche Mann zur Rechten des Richters ist gerade dabei, seiner Geldkatze ein Juwel zu entnehmen – offenbar, um das Urteil nicht dem Zufall zu überlassen. Der arme Mann hingegen fleht in unterwürfiger Haltung, mit verzweifeltem Gesichtsausdruck um einen gnädigen Richterspruch. Ein Engelchen, das mutmaßlich ebenfalls zu der Gruppe gehörte, steht ihm im Prozess zur Seite. Ein Teufelchen, das in frühen Beschreibungen als Begleiter des Reichen erwähnt wird, ist seit Langem verschollen. Doch was wird hier verhandelt? Und welches Urteil wird der Richter fällen?
Die Skulpturen stammen aus der sog. Ratsstube des Nürnberger Rathauses, dem Tagungsraum des Inneren Rats, und somit aus der Schaltzentrale der Macht der alten Reichsstadt. Aus historischen Dokumenten wissen wir, dass der Raum zwischen 1516 und 1518 unter der künstlerischen Leitung Albrecht Dürers eine neue Ausmalung erhielt – im selben Kontext wird die Richtergruppe bestellt worden sein. Bis ca. 1830 sind die Skulpturen in der Ratsstube nachweisbar; über Umwege gelangten sie 1974 ins Fembohaus.
Bis heute bleiben grundsätzliche Fragen zu der Gruppe ungelöst. Komplex gestaltet sich schon die Zuschreibung an einen Künstler. Wurden Mutmaßungen, die Dürer selbst als Schnitzer ins Spiel brachten, rasch ins Reich der Legenden verwiesen, so werden heute am heißesten zwei Namen diskutiert: der des in Landshut und München tätigen Hans Leinberger und der des v. a. als Medailleur bekannten Augsburgers Hans Schwarz, der wohl zeitweilig in Leinbergers Werkstatt tätig war. Doch tut man beim derzeitigen Stand gut daran, die Skulpturen keinem Künstler namentlich zuzuweisen, sondern sie vorsichtiger im "Umkreis" Leinbergers zu verorten.
Ebenso unklar ist, was hier eigentlich genau verhandelt wird. Feststeht, dass sich Gerichtsdarstellungen verschiedener Art auch andernorts aus Rathausausstattungen überliefert haben. Durch derartige Werke sollten die Ratsherren zu gerechten, eben unbestechlichen Urteilsfindungen ermahnt werden. So war in der Nürnberger Ratsstube zugleich auch eine Weltgerichtstafel Michael Wolgemuts aufgehängt, die die Skulpturengruppe gleichsam religiös kommentierte. Ob wir aber einen gerechten oder doch einen korrupten Richter vor uns haben, ist nach wie vor nicht eindeutig zu beantworten.
Historische Aufnahmen zeigen den Richter mit einer Waage in der Linken, die mal zugunsten des armen, mal des reichen Mannes ausschwingt. Da es sich bei der Waage allerdings um eine moderne Ergänzung handelte, wurde zuletzt mit guten Gründen bezweifelt, ob der Richter neben seinem (abgebrochenen) Stab, dem Zeichen seiner Amtsgewalt, überhaupt etwas in den Händen hielt. Damit verliert auch die Vermutung an Plausibilität, der Engel habe mit seinem erhobenen Arm ursprünglich die Waage zugunsten seines Klienten manipuliert.
Weitere Fragen schließen sich an: Stand das Engelchen überhaupt vor oder nicht vielmehr hinter dem armen Mann? Übergab es dem Richter als Gegenwert zum Schmiergeld des reichen Mannes gewissermaßen himmlische Währung? Machte es sich an der Tasche des Armen zu schaffen? Oder hielt es vielleicht selbst eine Waage in der Hand?
Ähnlich uneindeutig verhält es sich mit dem Fabeltier, auf dem der Richter thront. Herrscht schon Uneinigkeit darüber, ob überhaupt ein Greif gemeint ist, so besitzt dieses Mischwesen in mittelalterlichen Texten mal positive, mal negative Eigenschaften. Passend zu unserer Darstellung, wird es u. a. als Symbol der Geldgier charakterisiert. Entsprechend wendet das Scheusal dem Reichen seine Fratze zu und hält ihm gleichsam den Spiegel vor, während der Richter, offenbar unbeeindruckt von dem Bestechungsversuch, seine Aufmerksamkeit dem Armen schenkt.
Die Führung wird alle Indizien abwägen und durch Vergleiche zu anderen Gerichts- und Gerechtigkeitsdarstellungen auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. Doch eins scheint jetzt schon sicher: Zu einem abschließenden Urteil wird es auch bei dieser Gelegenheit nicht kommen.
- Kosten
- Eintritt frei