Dr. Christine Demele
Dürer im Jahr 1523
Der Beitrag versteht sich als Einführung in das Thema der diesjährigen Dürer-Vorträge "Dürer vernetzt 1523/2023". Er nähert sich Dürer nicht über ein bestimmtes Werk oder eine bestimmte Forschungsfrage, sondern nimmt eine begrenzte Zeitspanne seines Lebens unter die Lupe und verknüpft erhaltene Bild- und Textquellen unter Einbeziehung des historischen Kontextes. Um 1523 war Nürnberg Veranstaltungsort der Reichstage und wurde so zum Treffpunkt internationaler Polit-Prominenz. Dürer nutzte die Anwesenheit der Würdenträger zum Netzwerken und Kontakte pflegen. Zahlreiche Porträt-Zeichnungen dokumentieren persönliche Begegnungen mit hochrangigen Persönlichkeiten und Geistesgrößen unterschiedlicher Nationalitäten, von denen es manche noch zu identifizieren gilt. So könnte es sich bei dem 1523 von Dürer gezeichneten Bildnis eines bislang unbekannten Mannes im British Museum um Ludwig X. von Bayern handeln.
Christine Demele leitet seit Ende 2022 das Albrecht-Dürer-Haus und die Grafische Sammlung der Stadt Nürnberg. Sie hat ihre Dissertation über Dürers nacktes Selbstbildnis verfasst und dafür 2013 den Wolfgang-Ratjen-Preis erhalten.
Download des Vortrags von Dr. Christine Demele (PDF-Datei 2,58 MB)
Mag. Mateusz Mayer, MPhil
Zwischen Freundschaft und Physiognomik:
Dürer als Porträtist
Können Konzepte der Freundschaft, wie sie beispielsweise Cicero in seinem De amicitia präsentiert, unseren Blick auf eine Gruppe von Dürers Porträts bereichern? Viele der Porträts die Dürer von seinen Zeitgenossen anfertigte, gehen über den Anspruch hinaus nur das Äußere zu erfassen. Seine gedruckten Bildnisse von Willibald Pirckheimer, Erasmus von Rotterdam, und Philipp Melanchthon wurden bekanntlich ausgetauscht, um soziale Netzwerke zu festigen und um darüber zu sinnieren, ob ein Antlitz auch Auskunft über den inneren Charakter eines Dargestellten geben könnte. Im Rahmen von Freundschaftsnetzwerken ist besonders letzteres relevant, da Cicero als Voraussetzung für wahre Freundschaft Tugendhaftigkeit sah. Wie Dürers Bildnisse von Eobanus Hessus und Conrad Merkel aufzeigen, lud die Porträt-Betrachtung unter Freunden dazu ein, sich gegenseitig entsprechend an hohe moralische Maßstäbe zu erinnern und (falls erforderlich) die Mängel eines Freundes anhand physiognomischer Überlegungen aufzuzeigen.
Mateusz Mayer ist Doktorand und Lecturer am Department for Art History & Archaeology der Columbia University in New York City.
Dr. Stavros Vlachos
Extrem menschlich: Albrecht Dürers Darstellungen der Proskynese am Ölberg
Insgesamt elf Studien lassen vermuten, dass Albrecht Dürer zwischen 1521 und 1524 eine neue druckgraphische Passionsfolge plante, die nie realisiert wurde. Zwei dieser Zeichnungen sind ikonographisch rare Varianten der Proskynese am Ölberg: Jesus liegt bäuchlings mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden und signalisiert mit der körperlichen Nachbildung des Kreuzes seine Akzeptanz des Bevorstehenden. Die These, dass diese Inszenierung als Reflexion der Lehre Martin Luthers zu deuten ist, wonach Erlösung nur durch Hingabe im Glauben möglich sei, ist weit verbreitet. Der Vortrag argumentiert jedoch gegen die Annahme, dass diese Zeichnungen die Bildpolitik der Reformation widerspiegeln; vielmehr bezeugen die Darstellungen das ungebrochene Interesse Dürers an der Menschlichkeit Jesu. Denn mit den zwei Zeichnungen knüpft Dürer an den Holzschnitt um 1508 an, der ebenfalls die Proskynese am Ölberg darstellt, wenn auch mit anderer Körperhaltung. Des Weiteren zeigt der Beitrag, inwieweit die Kreuzform des Leibes lange vor der Reformation in der entsprechenden Bildtradition gängig und so für Dürer eine wesentliche Inspiration war.
Stavros Vlachos ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Neben Buch- und Tafelmalerei sowie Skulptur des Mittelalters gehören Albrecht Dürer und seine Zeit zu seinen Arbeitsschwerpunkten.
Ida Colangelo
Ins Bild setzen. Zeichnende in Albrecht Dürers Underweysung der Messung
Auf den letzten Blättern der Underweysung der Messung stellt Dürer insgesamt vier Zeichenverfahren vor, die eine perspektivische Wiedergabe von Seheindrücken vereinfachen sollen. Die Zeichnenden sind als vermeintliche Dokumente frühneuzeitlicher Zeichenpraxis äußerst populär und werden oftmals didaktischen Funktionen zugewiesen. Vor dem Hintergrund ihres Publikationskontextes – einem Buch, in dem Dürer geometrische Grundlagen für Künstler*innen beschreibt – ist ein vermittelnder Charakter naheliegend. Aber: Warum werden die Graphiken nicht schematisch gestaltet? Und wer sind eigentlich die Adressat*innen, wenn es sich um anwendungsorientierte Illustrationen handelt? Anhand einer Analyse der Blickdispositionen und der gestalteten Räume wird mein Beitrag argumentieren, dass die Zeichnenden dem Text nicht untergeordnet, sondern Teil der kunsttheoretischen Aussage sind.
Ida Colangelo ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln.
Dr. Mirela Ramljak Purgar
Bewegung, Rhythmus, das Filmische.
Transhistorische Beziehungen zwischen Albrecht Dürer und Ernst Ludwig Kirchner
Die These dieses Vortrages besteht darin, eine Verwandtschaft zwischen Dürer und Kirchner, zwei Künstlern, die historisch weit voneinander entfernt sind, in den einzelnen Blättern der Holzschnitt-Zyklen Apokalypse und Peter Schlemihls wundersame Geschichte zu bestätigen. Nicht nur weil Kirchner den älteren Künstler als Vorbild sah und zahlreiche Bücher über ihn in seiner Bibliothek hatte, sondern auch, weil der Begriff der Bewegung als gemeinsamer Nenner gelten kann. Dieser Begriff ist nicht nur wichtig, weil sich die Theorie damit beschäftigte (Wölfflin, 1905; Schielfer, 1926; Dube-Heynig, 1961; Presler, 1996), sondern auch deshalb, weil er, nach Erwin Panofsky (1926), mit dem Begriff des Rhythmus verbunden ist. Dieser Zusammenhang besteht nicht nur im gleichzeitigen Stehen und Bewegen (Kontrapost), sondern auch in der "Zerlegung des Bewegungsablaufs in mehrere kinematographisch aufeinanderfolgende Einzelphasen". Diese beiden Varianten des Rhythmus, die Panofsky im Werk Die vier Engel mit den Winden erkannte, führen zu einem Vergleich mit dem Filmischen.
Mirela Ramljak Purgar promovierte an der Philosophischen Fakultät Zagreb mit einem Thema zur Grafik Ernst Ludwig Kirchners im Kontext des frühen Films. Sie ist Assistenzprofessorin an der University of Josip Juraj Strossmayer in Osijek.
Dr. Christof Metzger
Dürer ist fad. Gekrakeltes von Meisterhand
In Sammlungen und Museen, namentlich in jenen, die sich auf Arbeiten auf Papier spezialisiert haben, ist die Frage "Vorne oder hinten?" Alltagsgeschäft. Bietet sich der so einfach zu handhabende Bildträger doch zum beidseitigen Gebrauch an: sei es aus Zufall, Langeweile, aus dem Werkprozess heraus, aus ökonomischen oder sogar ökologischen Gründen. Konservatorische Ansprüche erfordern aber die Lösung des eingangs gestellten Problems, nämlich wie ein solches Blatt zu montieren und sicher zu deponieren ist. Traditionell wird die ästhetisch ansprechendere Darstellung zur Schokoladenseite, während das Verso erst aus dem Sichtfeld, dann nicht zu selten aus dem Bewusstsein verschwindet. Dabei bieten sich hier oft interessante Einblicke, etwa wie die Künstlerinnen und Künstler sich auf ein Detail kaprizieren oder in ferne Gedanken abschweifen. Der Beitrag stellt einige weitgehend unbekannte Bildnotizen Albrecht Dürers vor, die zwischen Spiel und Studium oszillieren.
Christof Metzger ist seit 2011 Kurator für Deutsche Kunst an der Albertina in Wien. Er wurde mit einer Arbeit zum malerischen Werk Hans Schäufelins promoviert. Als Spezialist für die Kunst der Dürerzeit ist er Autor zahlreicher Publikationen zu Albrecht Dürer und seinem künstlerischen Umfeld.
Dr. Thomas Schauerte
Zum Haareraufen!
Dürers Radierung "Der Verzweifelnde" in neuer Deutung
Von Albrecht Dürers insgesamt sechs Eisenradierungen der Jahre 1515 bis 1518 blieb nur diese undatiert und ohne Signatur. Sie ist zudem die einzige in dieser Werkgruppe, die auf den ersten Blick keine nachvollziehbare Handlung erkennen lässt und daher bis heute weder eine gründliche Untersuchung noch eine schlüssige Deutung erfahren hat. Im letzten Werkverzeichnis von Dürers Druckgrafik von 2001 wird das kleine Blatt ganz neutral als "Studienblatt mit fünf Figuren" benannt, zugleich aber auch mit dem Untertitel "Der Verzweifelnde" geführt, den Adam von Bartsch bereits 1808 verwendet hat. In drängender Nahsichtigkeit kauert ein fast nackter, muskulöser Mann im Bildvordergrund, der sich mit dramatisch ausfahrender Gebärde das Haar zerwühlt und damit der Radierung zu ihrem Untertitel verhalf. In der Tat bietet der Kniende eine äußerst passende Illustration zur Redewendung des "Sich-die-Haare-Raufens", und es wird sich zeigen, dass diese – gewissermaßen wörtliche – Lesart auch die grundsätzlich richtige ist.
Thomas Schauerte ist Dürer-Spezialist und leitete bis 2019 u. a. das Albrecht-Dürer-Haus. Seither ist er als Direktor der Museen der Stadt Aschaffenburg tätig.
Dr. Franziska Ehrl
duerer.online – Virtuelles Forschungsnetzwerk Albrecht Dürer
Albrecht Dürer selbst war zu Lebzeiten meisterhaft im Bilden von Netzwerken. Dank der außergewöhnlich dichten Überlieferungsmasse von Text- und Bildmaterial können wir seinen persönlichen Beziehungen ebenso wie seinen künstlerischen Entwicklungen noch Jahrhunderte nach seinem Tod nachspüren. Zudem spinnen sich international weiterhin künstlerische, wissenschaftliche und sammelleidenschaftliche Rezeptions-Geflechte rund um sein Leben und Wirken.
Mithilfe der wissenschaftlichen Kommunikationsinfrastruktur WissKI entwickeln die Universitätsbibliothek Heidelberg, die Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg und die Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung e.V. seit Juni 2020 eine von Gattung und Verwahrungsort unabhängige Anlaufstelle für Interessierte, Forschende und verwahrende Sammlungen. Der Vortrag legt den Fokus auf die Möglichkeiten und Perspektiven von duerer.online als digitaler Knoten für eine gemeinsame Durchsuchbarkeit.
Franziska Ehrl ist an der Universitätsbibliothek Heidelberg seit Juni 2020 im DFG-geförderten Projekt "duerer.online – Virtuelles Forschungsnetzwerk Albrecht Dürer" für die kunsthistorische Erschließung, die Erfassung von Quellentexten und die semantische Vernetzung verantwortlich.