Aus Dürers Werkstatt in die ganze Welt. Die verschlungenen Wege seiner Werke

Programm der Dürer-Vorträge 2024

Albrecht Dürer: Betender Stifter (Detail aus dem "Rosenkranzfest"), 1506, Pinselzeichnung, Figur silhouettiert und auf blaues Papier aufgezogen. Bildnachweis: ALBERTINA Wien

Stephanie Sailer

Alle Wege führen nach Wien.
Der Wiener Adel sammelt Dürer-Zeichnungen

1928 verfasste Hans Tietze einen Aufsatz mit dem Titel "Wien als Dürerstadt". Diese Formulierung mag provokant erscheinen, sollte diese Ehre doch eindeutig Nürnberg gebühren. Tatsächlich war Dürer selbst niemals in Wien, die enge Verbundenheit der Habsburgerstadt erklärt sich aber dadurch, dass sich hier im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Dürer-Sammlungsschwerpunkt etablierte. Heute zeugt die Albertina mit dem weltweit größten Bestand an Dürer-Zeichnungen noch von diesem Erbe. Neben Albert von Sachsen-Teschen, dem Begründer der Albertina, trugen aber auch viele andere, heute jedoch weniger prominente Amateurs und Connaisseurs, wie Esterhazy, Fries, de Ligne und Birckenstock, zum Wiener Sammeleifer bei. Die Ursprünge dieser Sammlungen gehen größtenteils auf zwei bedeutende Nürnberger Kabinette aus dem 16. Jahrhundert zurück – nämlich die Sammlungen Imhoff und Praun. Der Vortrag wird die Wege nachzeichnen, die die Zeichnungen von Nürnberg nach Wien nahmen und aufzeigen, wie sich Wien durch diesen Transfer als führende Dürer-Stadt etablieren konnte.

Stephanie Sailer war von 2020 bis 2023 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere Kunstgeschichte der Universität Wien. Seit 2019 forscht sie am Vienna Center for the History of Collecting. Für ihre Dissertation zur Sammlungsgeschichte der Dürer-Zeichnungen wurde sie 2022 von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Bader-Preis für Kunstgeschichte ausgezeichnet.

Plakat "Albrecht Dürer. Mystik und Realistik" zu einer Ausstellung von Werken aus der Sammlung des Charkiwer Kunstmuseums zum 550. Jahrestag seiner Geburt.

Dr. Marina Filatova

Das grafische Erbe von Albrecht Dürer in der Sammlung des Kunstmuseums Charkiw

Das Charkiwer Kunstmuseum besitzt eine einzigartige Sammlung von Grafiken Albrecht Dürers, auf die nicht nur die Stadt, sondern auch die gesamte Ukraine stolz ist. Der Vortrag berichtet von der Geschichte des Museums, von den Menschen, die an seiner Entstehung beteiligt waren, und von seiner heutigen Bedeutung für das Land.

Die 1804 begonnene Sammlung von Dürer-Drucken ist mit dem Namen des Gründers der Universität Charkiw, Wassylj Karazin, verbunden. Im 19. Jahrhundert wurde die Sammlung durch Schenkungen der Universitätsabsolventen Ivan Betsky und Arkady Alfyorov ergänzt. Trotz aller Herausforderungen, mit denen Charkiw im 20. und 21. Jahrhundert konfrontiert war, darunter die tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die aktuelle russische Aggression, gelang es dem Charkiwer Kunstmuseum, eine einzigartige Grafiksammlung zu bewahren, in der 13 Drucke des genialen Albrecht Dürer einen besonderen Platz einnehmen. Dies ist nicht nur ein Beweis für die reiche Geschichte des Museums, sondern auch für den unerschütterlichen Geist seiner Mitarbeiter, die das kulturelle Erbe sorgfältig für künftige Generationen bewahren.

Marina Filatova ist Leiterin der Abteilung für ausländische Kunst im Kunstmuseum in Charkiw. Neben Ausstellungen und zahlreichen Publikationen zu Karikaturen im England und Frankreich des 19. Jahrhunderts betreute sie 2016 und 2021 die Konzeption und den Katalog der Schau "Albrecht Dürer. Mystik und Realistik" mit Grafiken aus der Sammlung des Charkiwer Kunstmuseums.

Albrecht Dürer: Drei Skizzen einer Frau mit Haube, 1527, Pinsel- und Federzeichnung, Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau, ehemals Slg. Koenigs. Bildnachweis: Albrecht Dürer. Zum 550. Geburtstag; Ausstellungskatalog der Staatlichen Eremitage St. Petersburg 2022, S. 235

Dr. Dilshat Harman

"Also gett man in Hewsern Nörmerck": Nürnberger Kostümzeichnungen von Dürer – Geschichte ihrer Provenienz und Erforschung

Albrecht Dürer hatte ein besonderes Bewusstsein und Verständnis für Kostüme. Seine Zeichnungen verraten ein Interesse an venezianischen, niederländischen, türkischen, irischen und livonischen Trachten. Es gibt aber auch Zeichnungen von Frauentrachten, wie sie in Nürnberg, der Heimatstadt des Künstlers, getragen wurden. Der Beitrag untersucht die Provenienz dieser Werke, die Diskussion um ihre Autorschaft und den heutigen Besitz. Nicht alle können jetzt Dürer zweifelsfrei zugeschrieben werden. Doch allein die Existenz von Kopien, zusätzlichen Inschriften und sogar Fälschungen zeugt vom großen Interesse an Dürers Darstellungen Nürnberger Trachten und ihrer Bedeutung für die frühneuzeitliche Identitätsbildung. Der Beitrag berührt auch die Frage politischer und praktischer Erwägungen, die bis heute einer objektiven Untersuchung der Kostümstudien Dürers entgegenstehen.

Dilshat Harman war bis 2022 leitende Forscherin am Zentrum für visuelle Studien des Mittelalters und der Neuzeit der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau. Sie verließ das Land, weil sie die russische Aggression in der Ukraine ablehnte. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen und arbeitet am DFG-Projekt "Constructing Early Modern Identities: Dress in Albrecht Dürer's Works".

Albrecht Dürer: Hl. Anna, 1522, Pinsel- und Kreidezeichnung, ehemals Kunsthalle Bremen. Bildnachweis: Kunstmuseum Jaroslawl

Natalia Sepman

Dürers Zeichnungen in Russland

Die Herkunft der Dürer-Zeichnungen in russischen Museen ist eng mit der Geschichte der graphischen Sammlungen in Russland verbunden. Zwei Zeichnungen Dürers kommen aus der Brüsseler Sammlung des österreichischen Diplomaten Graf Carl Cobenz. Beim Ankauf 1768 galten noch weitere, inzwischen abgeschriebene Blätter dieser Provenienz als Werke von Dürers Hand.

Im Jahre 1923 folgte eine bedeutende Erweiterung der graphischen Sammlung der Eremitage. Sie erhielt 2.000 der besten Blätter, darunter auch ein Meisterwerk von Dürer, die Iwan Betskoy als Präsident der Akademie der Künste in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammengetragen hatte. Aus einer alten Sammlung stammt auch die Zeichnung "Tanzende und musizierende Putti", die der sowjetische Dürer-Forscher und Sammler Alexey Sidorov dem Puschkin-Museum schenkte.

Die meisten der heute in Russland befindlichen Dürer-Zeichnungen wurden im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg 1945 aus Deutschland in die UdSSR verbracht. Darunter Werke aus der Sammlung von Franz Koenigs, vor allem aber betraf das die Dürer-Sammlung der Kunsthalle Bremen, die kriegsbedingt nach Brandenburg ausgelagert worden war. Unter diesen Blättern ist auch die Dürer-Studie für eine Hl. Anna, die seit Jahrzenten als verschollen galt und erst 2021 im Kunstmuseum Jaroslawl entdeckt wurde.

Natalia Sepman ist seit 2011 Kustodin der Sammlung der deutschen Zeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts in der Staatlichen Eremitage St. Petersburg. Dort kuratierte sie unter anderem die viel beachtete Ausstellung "Albrecht Dürer. Zum 550. Geburtstag" (2021/2022).

Albrecht Dürer: Das Frauenbad, 1493, Federzeichnung. Bildnachweis: Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen

Prof. Dr. Wolfgang Eichwede

Kriegsrückkehrer: Dürer in der Kunsthalle Bremen

Die Kunsthalle Bremen beherbergte vor dem zweiten Weltkrieg nach Berlin die zweitgrößte Sammlung von Dürer-Zeichnungen in Deutschland. Nachdem die Kunsthalle 1942 durch einen Bombentreffer und den anschließenden Brand stark beschädigt worden war, wurde die Sammlung des Kunstvereins an verschiedene Orte ausgelagert. Die wertvollsten Schätze des Kupferstichkabinetts gelangten so nach Brandenburg in das Schloss Karnzow, wo sie zusammen mit anderen Kunstwerken im Keller eingemauert wurden. Dort stationierte sowjetische Soldaten entdeckten das Versteck kurz nach Kriegsende und plünderten es. Außerdem bediente sich auch die lokale Bevölkerung. Noch heute vermisst die Kunsthalle Bremen weit über 1.000 Zeichnungen und etwa 3.000 Druckgrafiken, darunter über 40 Originalzeichnungen Albrecht Dürers. Die meisten von ihnen sind in Russland nachweisbar. Doch kam es in der Vergangenheit auch immer wieder zu sensationellen Rückführungen. In vielen Fällen spielte Wolfgang Eichwede dabei eine entscheidende Rolle und kann vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Bemühungen von erfolgreichen Restitutionen sowie von spannenden, aber letztlich politisch gescheiterten Versuchen berichten.

Wolfgang Eichwede ist Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und legte dort eines der weltweit größten Samisdat-Archive an. Er ist der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial eng verbunden. Durch sein Engagement gelangen mehrere spektakuläre Restitutionen bedeutender kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter in beide Richtungen.

Albrecht Dürer: Madonna mit dem Zeisig, 1506, Öl auf Holz. Bildnachweis: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie; Foto: Christoph Schmidt

Llane Fragoso Maldonado

"Vnd hab alle meine thefelle verkawft pis an eins". Dürer, die venezianische Malerzunft und sechs verschollene Tafeln

Albrecht Dürer war bereits ein anerkannter Maler und Kupferstecher als er sich zwischen 1505 und 1507 in Venedig aufhielt. Seine Korrespondenz mit Willibald Pirckheimer lässt auf eine zumindest anfänglich ungünstige Situation in der Lagunenstadt schließen. Offenbar reiste er ohne Auftraggeber auf eigene Faust und mit hohem finanziellen Aufwand.

Der Verkauf von fünf auftragslosen kleinen Gemälden unbekannter Sujets zu Beginn seines Aufenthaltes wirft zunächst Fragen nach den Arbeitsbedingungen für ausländische Maler in der streng reglementierten venezianischen Malerzunft auf, gibt aber auch Anlass, über die Aufgeschlossenheit des venezianischen Publikums für Dürers Bildsprache, deren Rezeption und Reichweite sowie über die von der italienisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung angenommene Abfolge des Kulturaustausches zwischen Dürer und Italien nachzudenken.

Llane Fragoso Maldonado war Stipendiatin des mexikanischen Nationalen Rats für Wissenschaft und Technologie (CONACyT) sowie der Fondazione Giorgio Cini in Venedig. In ihrer 2024 an der Freien Universität Berlin abgeschlossenen Dissertation beschäftigt sie sich mit der Malerpersönlichkeit des Pseudo-Boccaccino (Giovanni Agostino da Lodi). Ihr Forschungsschwerpunkt ist der kulturelle Austausch im Norditalien der Frühen Neuzeit.

Holzstock: Hiob vom Satan gegeißelt (Detail: nachträglich eingefügtes AD-Monogramm) Bildnachweis: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett; Foto: Livia Cárdenas

Dr. habil. Livia Cárdenas

Manipulierte Zeichen. Echte und falsche Dürermonogramme in Holzschnitten des 16. Jahrhunderts

Albrecht Dürer etablierte sein Monogramm früh als Marke. Was als Ausweis von Originalität diente, machte es auch Fälschern leicht, sich dieses Zeichens zu bedienen. Während das bei Zeichnungen und Gemälden recht einfach ist, erfordert es bei Holzschnitten eine ungleich höhere handwerkliche Expertise. Denn dafür mussten die Holzstöcke manipuliert werden. Die Art und Weise der Manipulation ist im Abdruck unsichtbar. Im Zentrum des Vortrags stehen Holzstöcke des 16. Jahrhunderts, denen zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Intentionen nachträglich das charakteristische AD-Monogramm eingefügt wurde. Das betrifft Stücke aus dem Werkstattumkreis Dürers wie auch den ungewöhnlichen Fall von tatsächlich von Dürer gerissenen Holzstöcken. Es soll den Absichten und Strategien nachgegangen werden, die hinter dem späteren Einfügen von falschen und "echten" Dürer-Monogrammen stehen.

Livia Cárdenas arbeitete nach der Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin an der Universität Basel und der Leuphana Universität Lüneburg, wo sie sich habilitierte. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschungsgruppe "Dimensionen der techne in den Künsten" am Teilprojekt: "Die dritte Dimension des Holzschnitts" und hat eine Vertretungsprofessur an der Universität Greifswald inne.

Albrecht Dürer: Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528, Holzschnitt, Buch III, Umkonstruktion eines Würfels. Bildnachweis: Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung e. V. Nürnberg

Hannes Schmidt

Dürer hat doch recht. Zu geometrischen Konstruktionen in den "Vier Büchern von menschlicher Proportion"

Der Kunsthistoriker Berthold Hinz hat Albrecht Dürers "Vier Bücher von menschlicher Proportion" einer gründlichen wissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen. Diese bedarf allerdings an einigen wenigen Stellen der Korrektur zugunsten Dürers. Insbesondere zwei geometrische Konstruktionen stehen hier im Fokus: Erstens Die Unterteilung einer gegebenen Strecke in drei Teile a, b, c mit a/b=b/c, und zweitens die Stauchung oder Streckung eines Würfels in einen Quader mit gleichem Volumen, gegebener Höhe und quadratischer Grundfläche. Letztere wird in diesem Vortrag erstmals entschlüsselt. Auch wenn uns manche Abschnitte 500 Jahre nach Erscheinen kryptisch vorkommen, erweist sich Dürer nachweislich nicht nur als kompetenter Mathematiker, sondern auch als sorgfältiger Buchautor.

Hannes Schmidt studierte Ingenieurwesen an den Universitäten Karlsruhe und Cambridge und Mathematik an der Fernuniversität Hagen. Seit 2008 betreut er in Nürnberg die Kunstsammlung und Bibliothek der Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung e.V., die sich Dürers Werk, seinem Leben und Nachleben widmen.