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3.6 Das "Nürnberg-Erlebnis": Individuelle Wahrnehmung der Parteitage

Nicht jeder begeisterte Teilnehmer der Reichsparteitage ist von der menschenverachtenden Weltanschauung überzeugt. Nicht jede kritische Äußerung steht für NS-Gegnerschaft. Berichte aus erster Hand und individuelle Erinnerungen besitzen für "Nürnberg-Fahrer" wie Daheimgebliebene große Bedeutung. Zeugnisse wie Briefe, Berichte, Tagebucheinträge und private Fotoalben zeigen die unterschiedlichsten Reaktionen auf die Reichsparteitage:

Die damals 50-jährige Auguste, 1938 aus Heppenheim zum Reichsparteitag nach Nürnberg angereist, schreibt in einem Brief an ihre Kinder: "Wenn ich Euch hier nur so die trockenen Tatsachen erzähle, könnt Ihr Euch doch gar kein Bild machen, wie das überhaupt war. Es fehlt die ganze Stimmung, die Begeisterung bei all den Menschen. Da standen die jüngsten Kinder neben alten Leuten, Ostmark, Sudetendeutsche, alle Gaue des Reiches, alles in der gleichen Ausdauer im Warten."

Die Nürnbergerin Charlotte, damals 19-Jahre-alte Rot-Kreuz-Helferin, erzählt in einem Brief an Verwandte vom Trubel in der Stadt: "Der Aufmarschplatz der 100.000 war der reinste Schuttabladeplatz. Zigarettenschachteln, Schokoladenpapiere, zerbrochene Flaschen, Lumpen usw. Richtige Schutthaufen wurden zusammengekehrt und feierlich verbrannt."

Arno berichtet 1997 in einem Zeitzeugengespräch, wie er als 10-jähriger Bub aus Nürnberg die Reichsparteitage erlebt hat: "Wir Jugendlichen sind zwischen den Synagogen hin und her gewechselt. Und wenn wir uns mit unseren Gebetbüchern durch die Menge gedrängt haben, war das eine Art Abenteuer. Denn man wusste genau, wenn man erwischt wird, mit einem jüdischen Gebetbuch unterm Arm, dass dann der Teufel los ist."

Reinhold aus Bonn war mit 17 Jahren als Mitglied des Reichsarbeitsdienstes beim Parteitag 1937 in Nürnberg. "Und ich hätte geweint, wenn ich nicht hätte mitfahren dürfen", erinnert er sich in einem Zeitzeugeninterview 1997.